„Des einen Freud – des anderen Leid“: Während wegen des Feuer, Staub und Asche spuckenden Islandvulkans Eyjafjalla weltweit Tausende von Flügen annulliert und die Flugreisenden immer noch verärgert auf eine Weiterbeförderung hofften, setzten gleichzeitig ähnliche Detonationen, Feuer und Asche am Zürcher Sechseläuten einen ausschliesslich positiven Kontrapunkt. Am Montagabend um 18:12:54 Uhr markierte der finale Kracher im Kopf des Böögg den endgültigen Abschied vom Winter und einen vielversprechenden Frühlingsbeginn.
Traditioneller Auftakt im Dorf
Pünktlich um 11 Uhr hielt der Höngger Zunftmeister Hans-Peter B. Stutz mit seinen Ehrengästen Esther Maurer, Alt-Stadträtin und ehem. Polizeivorsteherin der Stadt Zürich und Korpskommandant André Blattmann, Chef der Armee, unter langandauerndem Applaus der grossen Höngger Zunftgesellschaft Einzug im grossen Mülihalde-Saal. Der dritte geladene Ehrengast und Vertreter des diesjährigen Gastkantons Nidwalden, FDP-Nationalrat Edi Engelberger, musste aus gesundheitlichen Gründen leider kurzfristig vorher absagen.
„2010 – Internationales Jahr der Biodiversität“ – eine willkommene Steilvorlage für den Höngger Zunftmeister und Zoologen Hans-Peter Stutz: In seinen Sechseläutenbetrachtungen erweiterte er den Biodiversitäts-Begriff auf die menschliche Species allgemein und auf die in Zürich real gelebte Diversität im Speziellen. Vielfalt in Tradition und Fortschritt, im kulturellen Angebot, in Politik, Bildung und Wirtschaft, immer unter Wahrung und Hochhaltung des gegenseitigen Respekts über alle politischen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg, habe in Zürich letztlich zur heutigen kulturellen und wirtschaftlichen Spitzenposition im internationalen Vergleich geführt.
Er warnte aber davor, jetzt in Selbstgefälligkeit auf dem Erreichten zu verharren; was heute als richtig gelte, sei morgen vielleicht schon fraglich, und einzig die mutige, tolerante und aktive Auseinandersetzung mit Anderem könne zu neuen Chancen und Möglichkeiten führen. Die Höngger Zunft und Zünfter, so Stutz weiter, lebten diesen respektvollen Umgang mit der Vielfalt anderer Ansichten und Meinungen bereits heute und seien damit bestens aufgestellt für künftige Herausforderungen.
Vorstellung der Ehrengäste
Das anschliessende Mittagessen wurde traditionsgemäss begleitet von hochstehenden Rededuellen, in denen der Zunftmeister seine Ehrengäste witzig der Festgesellschaft vorstellte.
Zuerst wandte er sich „Bis-eben-noch“-Stadträtin Esther Maurer zu. Aufgewachsen im Clinch zwischen einem erz-sozialdemokratischen – und daher dem Sechseläuten absolut abholden – Vater und einer sechseläuten-begeisterten Mutter, lernte sie das Fest schon früh lieben, wusste aber auch: Für Genossen und Genossinnen ist die Teilnahme tabu! Und so genoss sie den Umzug halt auch während ihrer Stadtrats- und Polizeivorstands-Jahre einzig vom Fenster ihres Büros aus, von wo aus sie auch alle Sicherheitseinsätze „ihres“ Polizeikorps‘ verfolgte.
In ihrer Replik, welche bezüglich zünftiger Rhetorik-Standards auch die höchsten Anforderungen erfüllte, bedankte sich Maurer für die Einladung an ihr erstes (und vermutlich wegen ihres erfolgten Stadtrats-Rücktritts leider auch letztes) Sechseläuten und spannte einen weiten Bogen vom zünftigen Umgang mit Frauen bis hin zum Zunftmeister und Fledermausexperten Stutz, den sie ironisch mit Franz von Assisi (1181/1182 – 1226) verglich, welcher ja – wie Stutz – die Sprache seiner zoologischen Lieblinge nicht nur habe sprechen können, sondern auch die Gnade gehabt habe, ihnen zuzuhören.
Bei Ehrengast und Chef der Armee André Blattmann rückte Zunftmeister Stutz dessen jüngst in den Medien genüsslich kolportierten Armeevisionen und deren finanzpolitischen Konsequenzen ins Zentrum mit einem passenden Zitat aus dessen aktuellem Horoskop: „Mit leeren Taschen träumen Fischmänner vom rettenden Lottogewinn, mit dem sie sich ihre hochgesteckten und kostspieligen Wünsche erfüllen können.“ Auch Blattmann konterte darauf gekonnt, spannend und rhetorisch überzeugend.
Der Zug der Zünfte zum Böögg: Revival des Kontermarsches
Zu gross war in Zünfterkreisen die Verärgerung über die neue „Kontermarsch“-freie Umzugsroute gewesen, und so wurde die ungeliebte Übung zur Freude aller nach zwei Jahren abgebrochen und zur alten Streckenführung mit Kontermarsch in der Bahnhofstrasse zurückgekehrt. Damit war es allen Zünftern endlich wieder vergönnt, neben ihren eigenen Lieben auch wieder guten Kollegen beim Kontermarsch fröhlich ein „Schönes Sechseläuten!“ zuzurufen. Und auch Esther Maurer genoss ihren ersten und wahrscheinlich letzten Sechseläutenumzug mit grosser Freude und durfte immer wieder die Glückwünsche und Blumen von begeisterten (und ob ihres Stadtrats-Leistungsausweises sichtlich zufriedener) Zuschauer entgegen nehmen.
Auf dem Sechseläutenplatz beim Böögg blieben einschneidende Veränderungen trotz aktueller Bautätigkeiten im Zusammenhang mit der Realisierung des Sechseläuten-Parking und der Neugestaltung der Sechseläutenwiese entgegen aller Befürchtungen mehrheitlich aus. Einzig für Ross und Reiter stellten die engeren Verhältnisse und Umritt-Radien eine echte Herausforderung dar, welche auch von der Höngger Reitergruppe mit Bravour gemeistert wurde.
Auszug am Abend
Nach dem Nachtessen im «Au Premier» des Bahnhoffbuffets Zürich besuchte der Zunft-Auszug zuerst die Vereinigten Zünfte von Gerwe und Schuhmachern. Deren Zunfthaus, das Hotel „Savoy“ am Paradeplatz, zeigte sich dabei vorerst schnöde und abweisend, war doch kurz zuvor (Gott sei Dank allerdings erst nach dem warmen Hauptgang des Nachtessens) wegen eines Wassereinbruchs im ganzen Haus der Strom ausgefallen, so dass den Höngger Harst ein verdunkeltes Zunfthaus mit einzig von Kerzen beleuchtetem Festsaal erwartete. Auch die Lautsprecheranlage war ausgestiegen, was für den regegewaltigen Höngger Sprecher Ruedi Andres aber kein Handicap bedeutete (ganz im Gegensatz zum Gerwe-Schuhmachern-Zunftmeister, dessen Stimme sich im Saal nur mit äusserster Mühe durchsetzen konnte!).
Anschliessend suchte der Höngger Harst die Zünfte zu Wiedikon (Beat Zürcher) und zu Drei Königen (Marc Hofer Vassella) heim. Gleichzeitig empfing der Höngger Zunftmeister Hans-Peter Stutz auf der eigenen Stube die Auszugs-Harsts der Zünfte zu Gerwe und Schuhmachern, Schmiden und Saffran, welche ihn mit allesamt hervorragenden Sprechern zum Rededuell herausforderten. Insbesondere der Saffran-Sprecher, der in Höngg praktizierende Rheuma- und Rehabilitations-Mediziner Balz Kleinert, unter dessen heilende Hände sich schon viele sport- und rheumageschädigte Zünfter gelegt hatten, konnte dabei auf mannigfaltiges Höngger Insiderwissen zugreifen.
Text Ueli Friedländer / Fotos M. Hilti, M. Spalinger, U. Friedländer